Die Vergänglichkeit des Seins
Schon wieder so ein hochgestochener Titel, ich weiß gar nicht, wieso ich in letzter Zeit so philosophisch bin. Allerdings beschäftigen mich die Gedanken der Vergänglichkeit des Seins (nicht im Sinne der Zeit vor dem Tod, sondern der Zeit als Volontär*innen in Shangilia) schon seit meiner Ankunft hier. Da meine letzten drei Wochen hier anbrechen, während ich diesen Eintrag schreibe, ist die Melancholie noch stärker und aktueller geworden. Zudem haben wir ja gerade auch Ehemaligen-Besuch, durch den ich mich dann wirklich auch mal außerhalb meines Kopfes mit dem Thema beschäftigen muss.
Wie den meisten Leser*innen bestimmt (mittlerweile) bekannt ist, war es bis jetzt für Volontär*innen in Shangilia nur möglich, maximal sechs Monate hier zu verbringen. Aus verschiedensten Gründen blieben einige Freiwillige sogar noch kürzer. Zwar werden die Kinder im Sommer ihren ersten Volontär der fast ein Jahr bleibt, begrüßen, bis jetzt herrschte in Shangilia logischerweise aber eine recht hohe Fluktuation, die, wie fast alles im Leben, ihre Vor- und Nachteile hat.
Zunächst einmal ist es selbstverständlich, dass jeder Abschied von Freiwilligen allen hier schwerfällt: den Mitvolontär*innen und Angestellten aber nicht so schlimm wie den Kindern. Auch wenn ich mich noch nicht so oft verabschieden musste wie unsere Kinder, ist mir recht schnell klar geworden, wie sehr das erneute Verlassenwerden sie jedes Mal mitnimmt. Nicht nur sind alle Abschiede immer tränenreich, die langwierigeren Effekte der Abreisen bekommen besonders wir Zurückgelassenen mit: noch wochen-, manchmal monatelang fragen die Kinder, wann die abgereiste Person denn zurückkommt. Sobald jemand Neues nach Shangilia kommt, werden konsequent alle ehemaligen Freiwilligen durchgearbeitet: „Do you know…? Why not? She is your sister?“
Um wen wir uns immer am meisten Sorgen machen, wenn schon wieder jemand abreist, sind die jungen Kinder. Sie sind im Regelfall diejenigen, die sich am meisten an uns binden, aber zugleich auch diejenigen, die am schlechtesten verstehen können, wieso die Person nach ein paar Monaten, in denen sie teilweise schon fast gefährlich als eine Art Familienersatz gedient hat, wieder geht. Zugleich hat man, wenn man geht, bei ihnen auch am meisten Angst, dass sie sich bei ihrem jungen Erinnerungsvermögen und den vielen Volontär*innen nicht mehr an einen erinnern, wenn man zurückkehrt. Die älteren Kinder (besonders die richtig großen in der siebten und achten Klasse) sind vielleicht gerade deshalb die, die sich am wenigsten für uns interessieren: sie wissen, dass wir bald weg sind und lassen sich auf die emotionale Achterbahn gar nicht erst ein.
Einen der negativen Effekte der Fluktuation hier haben wir in letzter zeit häufiger zu hören und spüren bekommen: wie bereits andernorts erwähnt, wird man hier als Mensch mit heller Hautfarbe häufig anhand dessen kategorisiert und prinzipiell „Weißer“ bzw. „Wazungu“ auf Kisuaheli genannt. Bei den Menschen, die einen nicht kennen, wie die Menschen, an denen man im Slum auf dem Weg zum Markt vorbeiläuft, ist das schon fragwürdig. Wenn einen aber dann die Kinder, mit denen man monatelang zusammenlebt und -arbeitet zwischendurch so nennen, macht es einen wütend. Sie kennen unsere Namen und können diese benutzen und selbst, wenn sie sie mal vergessen und wenn sie uns verallgemeinern können, sollen sie das Wort „volunteers“ benutzen, das schließlich unsere Tätigkeit hier beschreibt. Da aber sogar die Lehrkräfte teilweise so von uns sprechen, sogar wenn wir danebenstehen, ist es schwierig, den Kindern zu vermitteln, wieso uns diese Formulierung stört. Mit einer der alternativen Formulierungen hängt allerdings das Problem zusammen, auf das ich eigentlich hinauswollte: um nämlich nicht „Wazungu“ sagen zu müssen, griffen manche Kinder in letzter Zeit auf das Wort „Visitors“ zurück. Zwar wollen sie damit eben rücksichtsvoller mit uns umgehen, dass wir begriffstechnisch auf eine Stufe mit den Menschen gestellt werden, die hier sonntags nach einer Safari eine Performance und ein Mittagessen bekommen, ist schon sehr verletzend. Vielleicht hängt aber diese Bezeichnung auch nicht nur mit unserer Hautfarbe, sondern leider eben auch mit unseren kurzen Aufenthalten hier zusammen. Nichtsdestotrotz sind wir alles andere als nur Besucher*innen, nämlich ein Teil von Shangilia.
Das Vermissen, die Kurzlebigkeit unserer Aufenthalte und die Abschiede werden seit einer Weile aber zum Glück durch verschiedenste Umstände etwas weniger schmerzhaft, denn zum einen wurde der in einem der anderen Beiträge erwähnte Shangilia-Jugendclub gegründet. Dadurch kennen Neuankömmlinge jetzt tatsächlich einige Ehemalige, wenn sie hier ankommen und die Kinder haben auf unterschiedlichste Art zwischendurch Kontakt zu den Ehemaligen, der sie jedes Mal freut. Zum anderen leben wir ja in einem herrlich modernen Zeitalter, dass es uns ermöglicht, kostenfrei mithilfe einer Internetverbindung mit Menschen am anderen Ende der Welt zu telefonieren. Dadurch können die Zurückgebliebenen dafür sorgen, dass die Kinder zwischendurch mal mit den Abgereisten sprechen können. Wenn die Kinder sich in diesen Gesprächen zwar quasi nur nach dem Rückkehrdatum des Freiwilligen erkundigen, so ist diese Methode für beide Seiten eine tolle Möglichkeit, Erinnerungen aufrecht zu erhalten. Unabhängig vom Jugendclub waren die Volontär*innen in den letzten Jahren so angetan von Shangilia, dass sie angefangen haben, zurückzukommen, was vorher nicht so häufig passierte. Diese Aussicht und die Versprechungen dahingehend (ohne wird man eigentlich von den Kindern auch nicht weggelassen) sind der größte Faktor, der das Verabschieden erleichtert. Gerade, wenn die Freiwilligen dann zu Besuch sind, können die Kinder sie leichter gehen lassen, weil sie ja wissen, dass sie ihre Versprechen, wiederzukommen, halten. Und auch den Volontär*innen fällt es leichter, wenn es nicht mehr der erste große Abschied ist.
Gerade beim Rückkehren fällt ein weiteres Phänomen besonders auf: wie im letzten Beitrag im Bezug auf die neuen Kinder schon erwähnt, erlebt hier ja jede*r Volontär*in andere besondere Momente Shangilias. Einerseits werden z.B. die aktuell neuen Kinder immer besonders für Theresa, Jonas und mich sein und wir wahrscheinlich auch für sie, gerade wenn wir dann zu Besuch kommen. Andererseits ist man auch Zeuge von unterschiedlichen anderen Veränderungen und Ereignissen, bei uns zum Beispiel Umstrukturierungen des Personals hier des beschriebenen Drehs des „logo!“-Beitrags über Shangilia. Was zudem auffällt, wenn man hier ist und bei der Rückkehr besonders deutlich wird, sind die verschiedenen Präferenzen der Kinder: da wir ja alle unterschiedliche Menschen sind und die Kinder genauso individuell, hat natürlich jede*r Freiwillige andere Kinder, die besonders anhänglich sind und welche, mit denen man weniger zu tun hat, mit denen sich jemand anders besonders gut verstanden hat. So wird man dann auch unterschiedlich empfangen, wenn man wiederkommt und hat verschiedene Geschichten zu erzählen.
Der Umgang mit den Kindern im Einzelnen ist einer der Bereiche, in denen man sich oft, ob bewusst oder unterbewusst, mit den anderen Freiwilligen vergleicht. Sowohl mit denen, mit denen man zusammenarbeitet, als auch mit denen, die vor einem hier waren und von denen die Kinder einem erzählen. Wenn Ehemalige zu Besuch kommen, sind sie zwar hauptsächlich eine Hilfe, können aber auch emotionalen Druck erzeugen: bei Kindern, mit denen man vorher viel gemacht hat, ist man plötzlich abgemeldet oder wird ausschließlich nach dem aktuellen Aufenthaltsort des anderen gefragt. Ähnlich kann es einem auch bei Neuankömmlingen gehen, die auf einmal viel interessanter auf die Kinder wirken, als man selbst. Sind diese Momente und Phasen gefühlstechnisch schon hart, so kann man sich am besten einfach für die Kinder darüber freuen, dass sie jemanden haben, der ihnen so wichtig ist. Dass sie viel Zeit mit anderen verbringen bedeutet ja auch nicht, dass sie einen selbst gar nicht mehr zu schätzen wissen.
Trotzdem ist die Angst, vergessen zu werden, unter all den Volontär*innen und nach der langen Zeit unterzugehen, zwischendurch immer wieder präsent. Genauso der Druck, die Anforderungen zu erfüllen, die die Kinder aufgrund der tollen Arbeit der Vorgänger*innen an einen stellen (und natürlich auch die Erwachsenen hier). Man hört und sieht, wie beliebt die vorherigen und parallelen Freiwilligen sind und fragt sich dauernd, ob man auch zumindest ein paar Kinder hat, von denen man so bedingungslos geliebt wird. Dabei erledigen sich all diese Fragen mit der vorherig erwähnten Vielfalt der Kinder und Volontär*innen. Schließlich kann man nicht die gleiche tolle Arbeit machen wie unsere Vorgänger*innen, denn das sind ja andere Menschen, die unter anderen Umständen gearbeitet haben, teilweise auch mit anderen Kindern. Genauso hat natürlich jedes Kind Freiwillige, mit denen es besser klarkommt, als mit anderen, denn wir haben alle unsere unterschiedlichen Herangehensweisen, Stärken und Schwächen. Manche Kinder sind auch mit niemandem besonders eng, weil sie vielleicht ihre*n Freiwillige*n noch nicht gefunden haben. Schließlich versteht man sich ja oft mit Menschen gut, denen man ähnlich ist und manche warten noch auf ihre Seelenverwandten, werden sie aber auch ziemlich sicher in zukünftigen Freiwilligen finden. Sich mit den anderen zu vergleichen ist natürlich, bringt einem aber auch nur bedingt etwas: sich von der Arbeit der anderen inspirieren zu lassen und Ratschläge einzuholen, ist sinnvoll. Zu versuchen genauso ist genauso unmöglich und ungesund wie zu versuchen, von allen 180 Kindern gemocht zu werden. Sobald man sich das oft genug sagt, kann man die Arbeit im Team mit unterschiedlichen Charakteren und die Besuche der Ehemaligen gleich viel entspannter sehen.